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Dorothea Murri: «Sterben ist wie eine Geburt»

Der Tod ist ein Tabuthema, das um Allerheiligen dennoch Raum bekommt. Trauerbegleiterin Dorothea Murri will helfen, diese Angstbarriere auch langfristig abzubauen.

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Halloween, Allerheiligen, Día de los muertos: Kulturen weltweit kennen Fest- und Gedenktage, an denen die Toten mithilfe von Ritualen in die Welt der Lebenden zurückgeholt werden. Der Angst vor dem Sterben wird kurzfristig die Kraft genommen. Die Schweizer Theologin Dorothea Murri ist evangelische Pfarrerin und hat ein Jahr lang die Beratungsstelle „Leben und Sterben“ in ihrer Pfarre geleitet. Als Coachin für Menschen in intensiven Lebensphasen bietet die Bernerin ihre Beratungen nun abseits von institutionellen Vorgaben an. Ein Gespräch über Spiritualität, Schuld, assistierten Suizid und befreiende Rituale.

DIE FURCHE: Wenn man Sie im Internet sucht, vermutet man zunächst nicht, dass Sie Pfarrerin sind. Wo ordnen Sie sich ein?

Dorothea Murri: Jesus ist für mich ein großes Vorbild. Er lebte vor, wie man als Mensch – verbunden mit Gott bzw. mit der allesumfassenden bedingungslosen Liebe – leben kann. Insofern war ich an einem guten Ort als Pfarrerin, aber mit den Dogmen und der Institution habe ich oft Mühe. Manchmal führen sie meines Erachtens von der Botschaft der bedingungslosen Zugewandtheit Gottes weg, die Jesus Christus verkündete.

DIE FURCHE: Sie arbeiten mit Menschen, die sich durch ein Ereignis in ihrem Leben in einer kompletten Leere wiederfinden. Wie gibt man hier Hoffnung?

Murri: Wichtig ist, dass die Menschen überhaupt merken, dass ihnen die Hoffnung fehlt. Ich lasse sie erzählen, wie sie sich fühlen und wie sie sich stattdessen fühlen möchten. Ich bin überzeugt, dass wir alle, egal ob wir uns für spirituell oder religiös halten, verbunden sind mit der Lebensenergie, die uns wie einen Korken oben aufschwimmen lässt. Unser emotionaler Rucksack kann uns aber hinunterdrücken. Wenn Menschen einmal aussprechen dürfen, was sie belastet, wird ihnen der Druck genommen. Wenn man es beim Namen nennt, wird es leichter. Viel mehr braucht es oft nicht.

DIE FURCHE: Sie bieten auch Trauerreden abseits von institutionellen Kirchen an. Sehen Sie sich als eine Alternative?

Murri: Ja, aber auch als Vertretung für das Institutionelle. Die Kirche bietet für viele eine Beheimatung und es ist schön, wenn die Menschen ihren Lebenskreis an dem Ort schließen dürfen, zu dem sie einen Bezug haben. Ich fände es richtig, dass alle Angehörigen, die das wünschen, das Abschiedsritual mit eigenen Musikund Textwünschen und persönlich gefärbten Ritualen mitgestalten dürfen.

DIE FURCHE: Als Trauerbegleiterin begegnen Sie auch Menschen, die sich für den „assistierten Suizid“ entscheiden, den es in der Schweiz schon Jahrzehnte gibt. Was erleben Sie dabei?

Murri: Ich habe im letzten Jahr drei alte Menschen sehr nahe begleitet, die den assistierten Suizid gewählt haben. Alle drei waren so christlich geprägt, dass es ihnen wichtig war, von mir als Pfarrerin zu erfahren, ob ich ihre Entscheidung für eine Sünde halte. Einer von ihnen war 96 Jahre alt, hatte Blasenkrebs und nach einem Oberschenkelbruch war seine Lebensenergie weg. Wichtig ist mir, dass die Sterbewilligen nicht „heimlich“ gehen, sondern ihren Liebsten die Gelegenheit geben, sich zu verabschieden.

DIE FURCHE: Wie können Sie dabei helfen, Schuldgefühle zu nehmen?

Murri: Ich bin oft in der Rolle der Mediatorin zwischen Sterbewilligen und ihren Angehörigen. Ich schaffe einen Raum, in dem alles ausgesprochen werden darf. Es entstehen wahnsinnig schöne und berührende Momente, in denen die sterbewillige Person und die Angehörigen sich in die Arme nehmen und klar wird, dass die Entscheidung nichts mit fehlender Liebe und Verbundenheit zu tun hat.

«Für Menschen, die an einen strafenden und kontrollierenden Gott glauben, ist sowohl das Leben als auch das Sterben schwierig.»

DIE FURCHE: Wie stehen Sie persönlich zum Thema assistierter Suizid?

Murri: Ich verurteile niemanden, der diesen Weg für sich wählt. Ich hoffe für mich, dass ich mich, wenn ich einmal alt und lebenssatt bin, nicht dafür entscheiden muss. Ich finde es aber schön, dass es die Möglichkeit gibt. Für mich ist Sterben etwas wie eine Geburt. Heute verurteilt man Frauen nicht mehr, wenn sie schmerzfrei Kinder bekommen wollen. Weshalb sollte nicht auch das Hinübergleiten in die andere Welt ganz bewusst und ohne Schmerz geschehen können, wenn man sich das wünscht?

DIE FURCHE: Man kennt einen gewissen „Sterbetourismus“ in die Schweiz. Sind länderspezifische Regelungen, wie sie nun Österreich seit Kurzem hat, sinnvoll?

Murri: Ich finde es menschenfreundlich, wenn Menschen dort sterben dürfen, wo sie daheim sind. Ich habe Fälle erlebt, wo Menschen, die in einem Altersheim daheim waren, sich in einem Hotel verabschieden mussten. Das hat etwas Trauriges. Für diesen letzten Schritt für ein oder zwei Stunden in ein Zimmer gehen zu müssen, wo man noch nie zuvor gewesen ist, ist nicht schön. Und auch diesen Sterbetourismus wünsche ich niemandem. Viele, die sich für assistierten Suizid entscheiden, sehen für sich keine Lebensqualität mehr oder haben Angst vor einem sehr schmerzhaften Sterben. Als Außenstehende haben wir meistens keine Ahnung, was in diesen Menschen vorgeht. Es steht uns nicht zu, sie zu verurteilen.

DIE FURCHE: Sie sagen, es bräuchte in unserer Gesellschaft viel mehr Rituale, um Ereignisse zu verarbeiten. Weshalb?

Murri: Rituale machen Lebensereignisse rund. Daher empfinde ich auch Trennungsrituale als etwas ganz Wichtiges. Rituale helfen zu entgiften. Eine klare Intention vor Zeugen ins Universum zu rufen, aufzuschreiben, ins Wasser zu werfen oder ins Feuer zu geben, ebnet den Weg für das Neue und schenkt Kraft, um weiterzugehen.

DIE FURCHE: Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch Themen wie Fehlgeburt oder Abtreibung an. Passt das zusammen?

Murri: Die Frauen, die ich kenne, die Schwangerschaftsabbrüche gemacht haben, waren in einer tiefen Not. Viele haben ihr Leben lang Schuldgefühle. Und auch beim Kindstod sind oft Schuldgefühle da. Als Coachin und als Pfarrerin kann ich den Menschen Raum geben, zu verstehen und zu verzeihen. Wir können gar nicht anders als im Leben immer wieder in Situationen zu kommen, in denen wir entscheiden müssen und oft nicht wissen, was die Folgen sind. Wir geben uns so große Mühe, um nicht sündig zu werden, nicht irgendeinen Fehltritt zu machen und dann machen wir ihn doch. Die meisten von uns versuchen, gute Menschen zu sein, und manchmal gelingt es beim besten Willen nicht. Ich finde Rituale wichtig, weil sie uns helfen können, dass wir uns selbst oder anderen vergeben können und nicht in der Vergangenheit haften bleiben, sondern frei werden für das Leben, das hier und jetzt stattfindet.

DIE FURCHE: A propos Vergangenheit: Sie hatten in Ihrer Kindheit mit vier und fünf Jahren zwei Nahtot-Erlebnisse. Beeinflusst das Ihre Arbeit?

Murri: Garantiert. Ich erinnere mich noch an die tiefe Traurigkeit, die mich beide Male überkommen hatte, als ich nach den Unfällen wieder zu mir kam, weil es „drüben“ so schön war. Viele Menschen mit Nahtoderfahrung sehnen sich – oft unbewusst - nach dem Tod. Mein Anliegen ist es, Menschen dabei zu helfen, die Schätze, die sie drüben gesehen haben, hierherzuzuholen, um sie in diese Welt zu integrieren und damit sozusagen das Himmelreich auf die Erde zu holen. Dadurch wird das Leben hier schöner und die Sehnsucht nach dem Tod kleiner.

DIE FURCHE: Können Sie durch ihre eigenen Nahtoderlebnisse die Menschen besser abholen?

Murri: Sicherlich dient mir auch mein Glaube, dass die Liebe die größte Kraft ist und uns nichts von der Liebe trennen kann, egal was man in diesem Leben tut und egal wie man stirbt oder gestorben wird.

DIE FURCHE: Und das unabhängig davon, ob man an einen Gott glaubt oder nicht?

Murri: Es klingt zwar ketzerisch, aber ehrlich gesagt: Ich denke manchmal, dass es einfacher ist, wenn man nicht an einen Gott glaubt. Wer an einen strafenden und kontrollierenden Gott glaubt, für den ist sowohl das Leben als auch das Sterben schwierig. Wenn man hingegen an einen Gott oder eine Kraft glauben kann, die unterstützend und liebevoll ist, hilft der Glaube. Meine Botschaft an die Menschen ist: "Dieser Lern- und Abenteuerplanet dient dir, zu erkennen, wer du in Wirklichkeit bist - ein Teil der allesumfassenden, bedingungslosen Liebe".

Das Gespräch führte  

Victoria Schwendenwein

FURCHE-Redaktion

Publiziert: 25.10.2022

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